Das Vorsichtsprinzip

Unter den in den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Buchführung (GoB) genannten Bewertungsgrundsätzen genießt das Vorsichtsprinzip (§ 252(1) Nr. 4 HGB) den höchsten Stellenwert. Handels- und steuerrechtlich besitzen somit die Kapitalerhaltung des Unternehmens und der Gläubigerschutz ein vorrangiges Interesse, auch wenn sich die Konkretisierungen des Vorsichtsprinzips durch das Bilanzmodernisierungsgesetz von 2009 leicht verändert haben. Vermögen wird tendenziell weiterhin niedriger und Schulden höher bewertet. Zudem sind vorhersehbare Risiken ebenso zu erfassen. Das hat unmittelbare Konsequenzen für die Buchhaltung.

Anwendung des Vorsichtsprinzips: Anschaffungswertprinzip

Die erste konkrete Ausprägung des Vorsichtsprinzips ist das Anschaffungswertprinzip (§ 253(1) HGB). Hiernach bilden die Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Vermögensgegenstands die Obergrenze bei der Bewertung zum Jahresabschluss. Das gilt für Anlage- und Umlaufvermögen.

Beispiel: Ein (unbebautes) Grundstück wurde für 100.000 Euro angeschafft. Nach einer aktuellen Wertschätzung ist das Grundstück nun 150.000 Euro wert. Das Grundstück wird nicht veräußert. In der Bilanz bleibt es damit mit 100.000 Euro stehen. Nach dem Anschaffungswertprinzip darf nicht auf den höheren Wert bilanziert werden.

Anwendung des Vorsichtsprinzips: Niederstwertprinzip

Neben dem Anschaffungswertprinzip ist auch das Niederstwertprinzip eine Konkretisierung des Vorsichtsprinzips. Nach dem Niederstwertprinzip muss jeder Gegenstand des Anlage- und Umlaufvermögens bei der Wahl zwischen Tageswert zum Bilanzstichtag (31.12.) und (fortgeführten) Anschaffungskosten der niedrigere Wert angesetzt werden (§ 253(1) HGB). Als Tageswert – auch beizulegender Zeitwert genannt – gilt der Marktpreis des Bilanzstichtags. Gibt es keinen Marktpreis, kann ein sinnvoll geschätzter Preis oder Wert herangezogen werden.

Strenges und gemildertes Niederstwertprinzip

Beim Niederstwertprinzip wird zwischen zwei Ausprägungsformen unterschieden. Zum einen gibt es das strenge Niederstwertprinzip. Hiernach muss beim Umlaufvermögen immer der niedrigste Wert angesetzt werden, auch wenn die Wertminderung nur vorübergehend ist (§ 253(4) HGB).

Beispiel: Es sind zum Bilanzstichtag Vorräte (Roh-, Betriebs- und Hilfsstoffe) nach Einkaufspreis im Wert von 10.000 Euro im Lager. Nach kaufmännischer Vorsicht wird nach Erfahrungswerten Schwund in Höhe von fünf Prozent (500 Euro) berücksichtigt. Die Vorräte müssen dann wertberichtigt mit 9.500 Euro bilanziert werden.

Daneben gibt es noch das gemilderte Niederstwertprinzip (§253(3) HGB). Demnach besteht beim Anlagevermögen ein Recht, die Dauerhaftigkeit einer Wertminderung nach vernünftigen kaufmännischen Maßstäben selbst zu beurteilen. Wird die Wertminderung als dauerhaft eingestuft, muss der niedrigere Wert – gegebenenfalls nach planmäßigen Abschreibungen – angesetzt werden. Ist die Wertminderung nur vorübergehend, wird mit den (fortgeführten) Anschaffungs- oder Herstellungskosten bilanziert und nicht abgeschrieben. Beim Finanzanlagevermögen gibt es ein Wahlrecht – hier darf der niedrigere Wert auch bei einer vorübergehenden Wertminderung bilanziert werden.

Beispiel: Ein Grundstück wurde für 100.000 Euro angeschafft. Die Behörden verhängen ein zeitlich begrenztes Nutzungsverbot des Grundstücks, wodurch der Wert auf 20.000 Euro sinkt. Da die Wertminderung vorübergehend ist, bleibt das Grundstück mit 100.000 Euro in der Bilanz. Würde das Nutzungsverbot dauerhaft verhängt oder für unbestimmte Zeit und der Unternehmer muss von einer Dauerhaftigkeit ausgehen, dann ist das Grundstück mit 20.000 Euro zu bilanzieren.

Anwendung des Vorsichtsprinzips: Höchstwertprinzip

Das Höchstwertprinzip ist für die Schulden (Verbindlichkeiten und Rückstellungen) relevant. Diese sind stets mit dem im Vergleich höheren Wert zu bilanzieren. Heranzuziehen ist der sogenannten Erfüllungsbetrag (§ 253(1) HGB). Bei Verbindlichkeiten ist dieser sicher, für zu erwartende Verluste ist eine Rückstellung zu bilden. Eine Verbindlichkeit muss erhöht werden, wenn die damit verbundene Schuld steigt. Das kann zum Beispiel bei Schulden in Fremdwährung durch einen veränderten Wechselkurs zum Bilanzstichtag relevant werden (§ 256a HGB). Dabei darf nicht unter den Wert der ursprünglichen Verbindlichkeit bilanziert werden, sondern nur bei einer Steigerung über den ursprünglichen Wert.

Strenges und gemildertes Höchstwertprinzip

Analog zum Niederstwertprinzip gibt es auch beim Höchstwertprinzip zwei Ausprägungsformen. Für kurzfristige Verbindlichkeiten gilt ein strenges Höchstwertprinzip, wonach ein höherer Tageswert bilanziert werden muss. Mittel- und langfristige Verbindlichkeiten sind nur dann mit dem höheren Wert anzusetzen, wenn die Wertsteigerung dauerhaft besteht.

Beispiel: Es besteht eine Verbindlichkeit zu einem ausländischen Lieferanten in Fremdwährung in Höhe von 10.000 Euro (umgerechnet). Am Bilanzstichtag erhöht sich durch einen veränderten Wechselkurs die Verbindlichkeit umgerechnet auf 11.000 Euro. In der Bilanz ist die Verbindlichkeit nun mit 11.000 Euro zu führen.

Für bestimmte Schulden, insbesondere im Zusammenhang zur Altersvorsorge, gelten gesonderte Regelungen, die nicht mit dem Höchstwertprinzip zu vereinbaren sind. In diesen Fällen steht ausnahmsweise die Faire-Value-Bewertung im Vordergrund, bei der eine marktgerechte Bewertung vorgenommen wird und keine Bewertung nach dem Höchstwertprinzip. Die Faire-Value-Bewertung ist allerdings eingeschränkt und eng gefasst.

Die Ungleichbehandlung von Vermögen und Schulden

Aus den obigen Konkretisierungen des Vorsichtsprinzips folgt auch, dass Vermögenwerte des Unternehmens anders behandelt werden als Schulden. Zum einen werden das Anlagevermögen und insbesondere das Umlaufvermögen tendenziell mit einem zu niedrigen Wert bilanziert. Zum anderen werden Verbindlichkeiten und Rückstellungen hingegen tendenziell mit einem zu hohen Wert bilanziert. Das ist Ausdruck kaufmännischer Vorsicht und dient der Substanzerhaltung des Unternehmens und dem Gläubigerschutz.

Aus dem Prinzip folgt auch, dass nicht realisierte Gewinne nicht ausgewiesen werden dürfen. Aus dem Beispiel mit dem Grundstück wird deutlich, dass hier eine Wertsteigerung passierte, diese aber bilanziell nicht erfasst werden darf, solange das Grundstück nicht verkauft wird (Realisationsprinzip). Umgekehrt müssen nicht realisierte Verluste (meist durch Bildung einer Rückstellung) bereits bilanziell erfasst werden, sobald diese drohen. Diese aus dem Vorsichtsprinzip abzuleitende Ungleichbehandlung ist auch als Imparitätsprinzip bekannt.

Stille Reserven

Durch die tendenziell zu niedrige Bewertung der Vermögensgegenstände und der tendenziell zu hohen Bewertung der Schulden werden die Unternehmensgewinne regelmäßig niedriger ausgewiesen. Zudem bilden sich stille Reserven. Stille Reserven sind noch nicht realisierte Gewinne sowie Differenzen zwischen bilanzierten und später realisierten Rückstellungen. Auch hier ist das im ersten Beispiel genannte Grundstück ein gutes Beispiel. Die Wertsteigerung von 50.000 Euro stellt für das Unternehmen eine stille Reserve dar.

Wertaufholung (Zuschreibung)

Entfallen die Gründe für die Wertminderung eines Vermögensgegenstandes, dann muss eine Zuschreibung erfolgen. Die Zuschreibung kann dabei maximal bis zu den (fortgeführten) Anschaffungs- oder Herstellungskosten stattfinden. Nur für bestimmte immaterielle Vermögensgegenstände wie beispielsweise ein entgeltlich erworbener Firmenwert darf eine Wertaufholung nicht erfolgen.

Beispiel: Ein Grundstück wurde für 100.000 Euro erworben. Ein Gutachten stellt im Jahr 2018 fest, dass der Boden belastet ist. Das Grundstück ist nur noch 20.000 Euro wert. In der Bilanz für 2018 wird das Grundstück mit 20.000 Euro bilanziert. In 2019 stellt sich heraus, dass der Gutachter sich geirrt hat. Gleichzeitig steigen die Grundstückspreise in der Region. Das Grundstück ist nun 150.000 Euro wert. In der Bilanz 2019 wird das Grundstück nach einer Zuschreibung mit 100.000 Euro aufgenommen.

Buchhalterisch ist hier zunächst eine außerplanmäßige Abschreibung in Höhe von 80.000 Euro erfolgt. Im Folgejahr musst eine Zuschreibung in gleicher Höhe vorgenommen werden. In der Buchhaltung stellt das einen außerordentlichen Ertrag dar.

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